1.09.2011

Kapitel 5: Weiter Strand

Braten wie in der Wüste, hatte Anna gesagt.

Lisa hatte nicht geahnt, dass Anna das so ernst meinte.

Jetzt ist sie schon mindestens zwei Stunden unterwegs und der Strand scheint kein Ende zu nehmen. Kaninchen hängt längst schlaff an ihrer Pfote und wird von ihr durch den Sand geschleift.

Noch einen Hügel erklimmen und dann...

Dabei sind noch keine vierzig Minuten vergangen, seit die kleine Bärenexpedition bei „Köhns Übergang“ die obere Wandelbahn verlassen hat und entlang der hölzernen Markierungen des Vogelschutzgebietes, der Pfahlreihe, ihre Wanderung über den Kniepsand begonnen hat. Und wahrscheinlich wird keine Viertelstunde vergehen, bis sie die Wasserkante erreichen.

Aber das ist der kleinen Bärin egal. Wenn jemand behauptet hätte, die Wüste Gobi läge zwischen Wittdün und der Nordsee - und nicht nur tausend Meter sanft gewellte Sandlandschaft - sie würde es glauben. Sicher dauert es noch Stunden, bis sie endlich das Wasser sieht.

„Ist es noch weit?“ Lisa ruft nach hinten, wo Anna mit Marie an der Hand die Nachhut bildet. Dann dreht sie sich nach vorne und versucht den Wind zu übertönen: „Sind wir schon da?“

Dort atzen Howard und Lausebär vorweg - trotz der schweren Rucksäcke mit Handtüchern, Strandzeug und Proviant. Ihr Rücken ist schon klatschnass, aber sie wollen schnell zum Wasser. Für morgen werden sie sich irgendwas überlegen müssen. Jeden Tag diesen schweren Krempel so über den Strand zu schaffen, das wäre ja Mord. Aber wer kann schon bei dieser Plackerei denken. Später, wenn sie endlich angekommen sind.

Lisa versucht es noch einmal: „Ich habe Durst!“

Niemand scheint Lisa zu hören, nur dieser Wind, der ständig den Sand mitbringt. Überall ist der Sand und beißt und zwickt. „Ist hier immer so´n Wind?“

„Ja, der Schmirgelwind ist fast immer hier. Deswegen heißt es auch Kniepsand, weil der Sand hier ständig kneift.“ Linus taucht neben Lisa mit seiner Schippe auf.

„Alter Besserwisser.“ Lisa will keine Erklärungen, sie will ans Meer.

Aber Linus ist schon wieder verschwunden und versucht auf der Kinderschaufel sitzend, den nächsten Steilhang herab zu rutschen. Fast gelingt es ihm. Erst auf dem letzten Meter verwandelt er sich zusammen mit der sperrigen Schippe in eine wild im Sand rotierende Kugel, die erst vom nächsten Dünengras gestoppt wird. Lachend springt der Bärenjunge auf und klettert die nächste Düne hoch.

„Linus.“

„Keine Zeit! Hier kommt der weltbeste Sandrutscher!“

Lisa setzt sich da schon lieber auf den Po, nimmt ihr Plüschtier auf den Schoß und beginnt vorsichtig rutschend mit dem Abstieg.

„Weißt du was, Kaninchen? Diesmal laufen wir noch mit. Aber wenn das jetzt jeden Tag so ist, will ich gar keinen Strandurlaub.“

Als sie das Meer erreichen, ist es einfach wunderbar. Die Sonne steht an einem wolkenlosen Himmel. Die Wellen schlagen sanft an die Küste. Der Wind ist angenehm kühl, da er jetzt über das Wasser streicht. Natürlich weht auch kein Sand mehr. Aber der Sand unter ihren Pfoten wärmt die Sohlen. Weit und breit sind sie allein am Strand. Als wären sie die ersten Bären, die diese Küste für sich in Besitz nehmen. Die Kante der hohen Dünen, die mit Gras bewachsen die Insel schützen, liegt weit hinter ihnen. Über die Dünenspitzen erhebt sich der rot-weiß geringelte Leuchtturm. Weit links, kaum noch sichtbar, endet der Dünensaum in Wittdün. So perfekt ist keine Postkarte. Und sie sind mittendrin.

Die Rucksäcke bleiben einfach im Sand liegen. Aufgeregt laufen die Bären über den Strand. Die Kleinen schreien vor Begeisterung und rennen wild durcheinander. Sie wollen Muscheln sammeln, einen Strandburg bauen, nein, Fangen spielen oder im Sand buddeln - am Besten alles zugleich.

Anna stellt sich an die Wasserkante und genießt wie der Wind um ihre Schnauze streicht. Lausebär und Howard suchen die höchste Stelle am Strand und lassen den Blick schweifen. Lisa will ihren Hut loswerden und Linus streift sein Hemd über den Kopf. Anna kann gerade noch verhindern, dass auch Marie sich aus den Kleidern pellt. Die Sonne ist viel zu heftig. Durch den Wind merkt man gar nicht, wie sie sogar durch den dichten Pelz alles verbrennen würde. Die Kleinen müssen sich wieder anziehen.

Dann verabreicht Anna allen honiggesüßten Früchtetee aus der Thermoskanne, damit sie bei der Hitze nicht austrocknen. Howard und Lausebär beginnen einen Windschutz aufzustellen. Die kleinen Bären helfen begeistert mit. Es ist aber nicht ihre Schuld, dass die bunte Tuchwand nur krumm und schief steht. In dem feinen trockenen Sand wollen Stangen und Haken einfach keinen Halt finden.

Für heute wird der Schutz aber ausreichen.

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