1.09.2011

Kapitel 6: Das Geheimnis der großen Bären

„Du bist tot!“ Aufgeregt schnappt Lisa nach Luft.
„Lass das!“ kreischt sie Linus an. „Wenn du es auch nur versuchst, bist du tot!“ Am Liebsten würde sich die Bärin breitbeinig vor ihren kleinen Bruder stellen, um ihn richtig zu beeindrucken. Aber sie traut sich nicht.

Denn schon steckt Linus den langen Holzstock in die glitzernde Glibbermasse vor ihm im Sand. Und beschleunigt mit einer schwungvollen Armbewegung das Ganze auf Lisa zu. Die hat keine Zeit, den Augenblick zu genießen, wie das milchig-durchsichtige Schleimtorpedo auf seinem kurzen Flug im Sonnenlicht gleißt. Sie taucht nach links unten ab und duckt sich. Zum Glück. Mit einem sanften Flatsch schlägt die Qualle weit hinter ihr im weichen Sand auf.

„Ich habe dich gewarnt. Jetzt wirst du sterben.“ Aber Linus hat schon das nächste Glibberding entdeckt und eilt mit flinken Beinen dorthin. Er bringt seinen Stock in Position und zielt auf Lisa. Und die ist ratlos. Soll sie, statt nur zu drohen, auf Linus losstürmen und versuchen, ihn selber in dieses eklige Schleimzeug zu schubsen? Oder soll sie lieber wegzulaufen, um möglichst viel Abstand zu seinen Glibbergeschossen zu gewinnen? „Du bist auf jeden Fall schon ziemlich tot!“ Doch vorher muss sich die kleine Bärin wieder ducken, da die nächste Flugqualle herangesaust kommt. Das war knapp...

Dabei ist der erste Strandtag bis jetzt doch so schön gewesen. Nachdem sie alle zusammen den schiefen Windschutz direkt am Wasser aufgestellt haben, ist Lisa mit ihrem kleinen Bruder zur Wasserkante spielen gegangen. Hier gibt es so viel zu entdecken, hier liegt ja so viel rum. Leider kann der kleine Bär kaum noch was in die Hosentaschen stopfen. Die sind ja schon so voll. Das orange Fadennest, in dem sich schon Stöckchen, Muscheln und Algenfransen verfangen haben, passt aber noch rein. Das kann er später auseinander rupfen.

"Hier könnte jemand doch mal aufräumen," Lisa schaut sich um, und findet alles so unordentlich. Linus findet dagegen einen langen Stock. Den bohrt er in alles rein, was auf dem Strand rum liegt. Stochert darin rum. Puhlt in Öffnungen. Dann nutzt der größte Erfinder der Welt den Stecken als Hebel, um Muscheln aus dem Sand zu schießen. Aber so ein Strand ist ja bestes Entdeckerland. Der Bär entdeckt jetzt die Glibber-Quallen am Spülsaum. Sie glitzern im Sonnenlicht. Die kann sicher noch besser über den Strand pfeffern: „Das sind ja schon Leichen.“ „Trotzdem gefährlich, weil ihre Nesseln immer noch brennen,“ ruft Anna rüber. „Nesseln? Die haben doch keine Blätter?“ Auf jeden Fall sind die glasig-violetten Glubschteile total eklig. Anfassen will Lisa die nicht. Und jetzt bewirft Linus sie mit den Schleimnesseln. Lisa droht. Lisa läuft. Lisa schimpft. Lisa rennt. Lisa schreit. Lisa flieht. Und ihr Bruder johlend und Quallen feuernd immer hinterher. „Johoh, das sind topgefährliche Feuerquallen!“

Auf der Flucht lecken die Wellen an den Füßen. Kleine bleiche Schaumkronen kriechen den Strand rauf. Beim Weglaufen ist Lisa immer wieder in anlaufenden Wellenspitzen getappst, die den Sand hochlaufen und sich wieder zurückziehen, bis spritzend die nächste nachdrängt. Dafür hat Lisa jetzt keine Zeit. Es ist ihr egal, dass jetzt Flut ist und das Wasser unmerklich immer höher kommt. Nur ihr Kleidsaum ist schon nass sandig und schwer.

Der Wind frischt schon den ganzen Morgen auf und die Brandung rauscht schon etwas drängender, aber noch Lisa schreit viel lauter vor Aufregung. „Linus zieh Leine!“ „Welche?“ Da ist schon ein neues Geschoss! Platsch! „Uuääääaaaaaaannnnaaaa!“ „Treffer. Versenkt,“ jubiliert Linus. Die Qualle rutscht an Lisa ab und hinterlässt eine feuchte Spur. Lisa schüttelt sich. Das Ist noch viel ekliger als sie sich das vorher vorgestellt hat. Glücklicherweise nesselt das Glibberding nicht so. Und die kleine Bärin hat noch mehr Glück. Linus setzt an und … der Stock bricht. Linus braucht ganz schnell Ersatz. Denn Lisa will Rache. Und Blutwurst. Jetzt flieht Linus.

Der schiefe Windschutz wird heute doch nicht halten, zumal Linus gerade - von seiner Schwester gejagt - dort hineinläuft. Der muss sich sofort wieder aufrappeln, denn Lisa jagt den blöden Quallenwerfer weiter. Die anderen Bären hatten bisher im Windschutz Pause gemacht und gedöst. Aber der nun zusammen gebrochen und droht überspült zu werden. Die großen Jungen gucken den kläglichen Rest an. Der Wiederaufbau lohnt sich nicht, weil die Flut immer dichter kommt. Also weiter in das Landesinnere. Lisa ist auch dafür, nur weg von den Glibberzeug.

Alle suchen inzwischen weiter oben am Strand eine Ausweichmöglichkeit. Linus hat die erste Strandgrasminidüne erklommen und winkt jetzt aufgeregt mit beiden Armen. Da steht doch eine Fahne am Strand. „Das ist ein Trockenklo für Seehunde“. Dort angekommen finden sie einen Sandring um eine hochgestellte Palette mit reingestellten Hölzern. Das macht das ganze ordentlich schwer und stabil. Daneben markiert eine hohe Stange mit flatternder Fahne und orangefarbener Fischerkugel die Strandburg. Die hat Linus schon so fast von der Wasserkante gesehen, auf dem ersten Hügel halt. Und das soll ein jetzt Pinkelplatz sein? Lisa rümpft die Nase und zieht hörbar die Luft ein. Sie riecht zum Glück nichts von diesem Trockenklo für die Meeresköter.

In Sichtweite zur Fahne errichten die Bären ihr nächstes Lager. Der Windschutz muss natürlich neu aufgestellt werden. Damit er diesmal nicht wieder sofort zusammen fällt, wird diesmal eine eigene Sandburg um die Stoffwand gegraben. Die kleine Bären bauen mit und Linus wirft im hohen Bogen den Sand auf den Wall. "Das muss man so machen, damit er sich gut verteilt und die Burg schön gleichzeitig wächst." Wenig später ist Marie ein Streuselkuchen. Sie hat die einzigartige Gabe, immer dort zu stehen, wohin der Sand fliegt. Zuhause in der Sandkiste oder hier, wo der der weltbeste Sandverweher wie eine Besessener arbeitet. Anna glaubt aber, dass die kleine Bärin ein noch bessere Pfützensucherin ist. Doch das Talent wird gerade nicht gebraucht, das Meer können sie von hier aus noch sehen und sonst ist der Strand trocken.

"Marie ist schon wieder eine Sandkugel." Linus ist begeistert und hat sofort eine neue Aufgabe für seine mächtigen Grabtatzen entdeckt: „Au ja! Jetzt sanden wir noch Kaninchen ein.“

Die Sandkugel schüttelt sich und spuckt noch ein wenig Knirschkram aus, der sich in den Mund gedrängelt hat. Heulen kann Marie auch später. Jetzt hilft sie erst einmal Linus mit großen Schaufelpfoten den Strand aufzuwirbeln. Der segelt dabei auch tatsächlich nicht nur nach oben. Einiges fliegt sogar in Richtung des kleinen Schlappohrs, das bei Lisa sitzt. „Anna, die werfen mit Sand.“

Kleine sandige Bären laufen wenig später zum Meer. Nachdem die wilden Sandwerfer den Strand gut durchgelüftet haben und verschüttete Kuscheltiere unter Protest an den Schlappohren aus den frischen Pudersandschichten befreit worden sind, gehen alle zusammen schwimmen. Denn die Großen passen doch besser auf die Kleinen auf. Kaninchen muss dafür auf die anderen Sachen aufpassen. Die kurzen Bären müssen sich schon durch die herankommenden Wellen kämpfen. Schnell ins Wasser, den wer zaudert, verliert. Dann ist das Wasser so kalt, dass der arme Frostköttel nie einen nassen Bauchnabel bekommt. Sie stürzen ins Wasser, das unter ihren Füßen dabei hoch spritzt, dann waten sie voran, bis sie die Arme hochnehmen müssen, um weiter zu kommen. Oder man paddelt wie Linus mit wilden Pfotenkreisen voran. Das spritzt gar fürchterlich und danach sind alle anderen auch nass. Immer wenn eine Welle kommt, trägt sie die Bären ein Stück nach oben, wenn man sich rechtzeitig vom Boden abstößt. Heute ist die Brandung aber schon so stark, dass die rollenden Wasserberge eine kleine Marie immer wieder beinahe umzureißen. Lausebär nimmt den Wasserfloh an die Hand. Die kleine Bärin juchzt. Wenn jetzt eine große Welle kommt, lässt sie sich einfach reinfallen. Der Wellenkamm nimmt sie mit, bis sie der große Bär wieder ran zieht und in die Luft hebt und langsam absetzt, bis sie wieder stehen kann.

Linus und Lisa müssen dafür hüpfen, um in den Wellenbergen nicht unterzutauchen. „Das ist aber 'ne Menge Arbeit,“ ächzt Lisa und verpasst den nächsten Sprung. Schon platscht die nächste Schaumkrone ihr mitten ins Gesicht. Sofort schmeckt der ganze Mund salzig. Sie prustet und spuckt, aber der scharfe Geschmack will nicht weichen. „Kaninchen hat Schwein, dass es am Strand geblieben ist. Es ist doch ein Süßwasserlangohr.“ Als Lisa vor Aufregung auch noch den nächsten Wellenhüpfer vergisst, muss sie wieder Salz spucken: „Kann man diesen blöden Salzwellen nicht auch anders ausweichen?“ Ein dunkler Bärenkopf mit Kappe taucht neben ihr in den Fluten auf: „Klar doch - lass dich auf dem Wasser treiben.“ Howard legt sich auch sofort auf dem Rücken flach auf das Wasser und zeigt den Kleinen einen toten Bären im Meer.

Bei den Wellen ist es aber nicht ganz einfach, so ruhig liegen zu bleiben. Also schwimmt Howard mit Linus etwas weiter raus, wo der Wellengang noch ruhiger ist. Lausebär folgt den beiden mit Marie auf den Schultern. Hier fällt der Boden nur sanft ab, so dass der große Bär noch lange mit den Füßen auf dem Grund stehen kann.

Anna und Lisa kehren lieber um und setzen sich zum Binnenkaninchen auf das Handtuch am trockenen Sandstrand. Da draußen muss Howard dem kleinen Petz noch mal den toten Bären in Rückenlage zeigen. Aber das reicht einem nautischen Genie noch lange nicht. Linus will eine wirklich erstklassige Wasserleiche auf dem Bauch sein. Wenig später muss der Kleine prustend aufgeben, weil er so doch keine Luft bekommt. Der große Bär nimmt ihn lieber ins Schlepp, bevor das weltbeste Treibgut ganz untergeht. Nachdem Linus wieder Luft bekommt, fragt er den Experten mit der Kappe: „Gibt es treibende Totbären auch mit Schnorchel?“ Danach verkündet er: „Auf dem Bauch ist sicher die beste Lage für Treibleichen. Wenn ich das dann kann, werde ich ganz weit raus schwimmen. Also mindestens bis zum nächsten Kontinent da hinten.“ Er zeigt auf die Insel mit Leuchtturm am Horizont, deren Schemen sich so flach über dem Wasser gerade eben im Dunst abzeichnen.

Danach müssen kleine Bären sich wegen der Sonnenstrahlen wieder anziehen. Zum ersten Picknick am Strand gibt es zu den Stullen wieder Früchtetee aus Bärenfrüchten: Himbären, Heidelbären und Brombären. „Das sind holländische Brummbären.“ Kleine Leckermäule wollen Ihren Tee natürlich mit Honig. „ Ich bin heute ganz getränkelig,“ verkündet Linus. „Nasshungrig,“ schnappt Lisa. „Das auch!“ Auf jeden Fall sind kleine Bären heute sehr durstig und schnell ist die Thermoskanne leer. So viel Tee will nicht gern herumspringen, in Bärenbäuchen schwappen oder Sandberge versetzen und wenig später schlafen die Kurzen erschöpft im Schatten des Windschutzes.

Lausebär und Howard nutzen die freie Zeit und stellen sich auf die nächste Erhebung mit Dünengrasbuschel. Sie üben den Holzblick. Dabei beratschlagen die beiden mit großen Pfotengesten, ob die Theorien auch stimmen. Wo ist hier das Holz? Gibt es Pricken? "Da ist doch schon eine Latte!" Sie laufen los und ziehen noch schnell ein Brett vom Spülsaum weiter auf den Sand, damit es kein Raub der See wird. Aufgeregt laufen sie über den Strand und stellen dabei alle Fundhölzer, die unterwegs aus dem Sand ragen oder flach in dunklen Senken liegen, aufrecht hin.

Linus blinzelt verschlafen unter seiner Decke hervor. Er sieht Lausebär und Howard über den Strand eilen. Und immer, wenn sie sich bücken, stecken sie danach eine senkrechte Markierung in den Strand. Wenig später ist der kleine Bär aufgesprungen und saust zu den großen Jungen Er tippt auf einen Hindernislauf. Die beiden schütteln nur den Kopf. „Was ist es denn dann?“ „Ein Geheimnis!“ blinzelt Howard ihm mit Verschwörermiene zu. Kaum zu glauben, aber selbst dem nautischen Fachbären wollen die Jungs nichts verraten. Linus ist entrüstet: „Ich bin doch Experte, ich muss das wissen!“ Die Jungs sagen trotzdem nichts. „Warum?“ „Weil es ein Geheimnis ist.“

Dennoch erzählt Linus danach Anna ganz genau, was hier überhaupt los ist. Das sind sicher Seezeichen für Flachwasserpiraten oder Strandräuber. Oder so etwas ähnliches. Doch bevor der nautische Fachbär das noch genauer erklären kann, wird es Zeit zurückzugehen.

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