1.09.2011

Kapitel 9: In den Holzminen

„Da ist Norden.“ Linus schwenkt die linke Pfote senkrecht auf und ab. In der anderen Tatze hält der nautische Fachbär seinen Kompass. Eine lange Kordel schlingt sich um seinen Nacken, so dass das Präzisionsinstrument locker um den Hals hängt, wenn er nicht gerade schauen muss, wohin die Kompassnadel zeigt.

Die große Expedition hat begonnen und sie haben den bewachsenen Dünengürtel schon wieder hinter sich gelassen. Sie sind jetzt auf dem flachen Teilstück, bevor die sanften Erhebungen der Sandverwehungen des Kniepsandes beginnen. Die sechs Bären wollen wieder zum Lagerplatz von gestern und sind auf dem Weg zur Fahne vorne an der Wasserkante. Den allen bekannten Fixpunkt können sogar die kleinen Bären erahnen.

Aber ist das der richtige Weg? Linus überlässt das nicht dem Zufall. Er hat deshalb den Kompass mitgenommen. Damit kann man sich nicht verirren. Das erklärt er allen mehrmals. Von Zeit zu Zeit prüft er nun die Himmelsrichtung und zeigt dann in die Weite so in Richtung Leuchtturm: „Da ist Norden.“ Der liegt aber gar nicht auf ihrem Weg. Also gehen alle dann in der selben Richtung weiter wie zuvor. Auch Linus. Bis zur nächsten Peilung.

Sie kommen gut voran. Howard und Lausebär ziehen den Bollerwagen mit Handtüchern, Werkzeug und Proviant. Beide zwinkern sich zu. Den Bollerwagen zu mieten, ist ein guter Plan gewesen. Es ist viel bequemer, als noch mal die Rucksäcke schleppen. Sie spüren kaum das Gewicht, der Wagen rollt leicht über den festen Strand. Bis die erste Sandwehe auftaucht. Nicht nur, dass es plötzlich mehr Kraft braucht, den Wagen hoch zu wuchten. Die großen Räder sinken im weichen Sand ein. Obwohl die Jungen sich mit ausgiebigen Flüchen anfeuern, ist es wieder sehr anstrengend. Sie schwitzen wie Polarbären in der Sauna. Kleine Tropfen hängen schnell an den Fellspitzen über den Augen. Anna eilt zur Hilfe und mit vereinten Kräften schieben sie den Wagen durch den nachgiebigen Sand.

Der Bollerwagen wird auch nicht leichter, als Marie sich eine Schaufel holt. Gestern hat sie gesehen, wie Linus auf so einer Schaufel die Dünen runtergerutscht ist. Er hat den Stiel festgehalten und sich auf das Blatt gesetzt. Das hat so lustig ausgesehen, dass die Kleinste das jetzt nachmachen will. Linus hat heute keine Zeit für irgendwelches Dünenrutschen, er muss peilen. Also steigt Marie mit Lisa und Kaninchen auf die höchste Erhebung und tastet sich mit knappen Schritten zur steilen Abbruchkante vor. Alle drei beugen sich vor und schauen vorsichtig über den Rand. Hier geht es fast senkrecht wieder runter. Marie lächelt Lisa zu, das wird eine wilde Fahrt. Schon sitzt Marie auf der Schaufel und robbt mit beiden Füßen zur Kante. Sie hibbelt dabei so aufgeregt auf dem Blatt, dass die ersten Risse die Sandkante durchziehen. Lisa blickt nach unten. Sie prummelt Kaninchen wieder fester in die Jackentasche, aus der sich das kleine Schlappohr weit herausgelehnt hat, um besser sehen zu können. Es beunruhigt die Bärin, dass immer neue Spalten im Sand unter ihren Füßen entstehen. Auch der Boden scheint ein wenig nachzugeben. „Marie, wir sollten lieber wieder zurückgehen. Kaninchen kriegt sonst Angst.“

Aber Marie hört nicht und schiebt sich immer weiter über die Kante. Den langen Stiel hat sie fest gegriffen. Jetzt drückt die Kleine ihn nach vorn. Die Beine hängen in der Luft, dann kippt die ganze Fuhre nach vorne. Marie juchzt und saust los. Die ganze Düne saust mit. Lisa will noch „Marie, pass auf!“ rufen, da reißt sie der abrutschende Sand mit. Vorneweg reitet Marie auf ersten Sandwelle den Hang hinab. Die Augen strahlen, auch wenn die Kleinste sie ein wenig zukneift. Sie könnte schreien vor Freude, aber dann kommt Sand in den Mund.

Lisa könnte auch schreien, vor Angst, aber dann kommt auch Sand in den Mund. Sie und Kaninchen kugeln den Hang runter, pflügen durch den Sand. Er ist überall, knirscht zwischen den Zähnen, in der Kleidung, in den Ohren. Und er nimmt kein Ende. Als Lisa spuckend am Fuß der kleinen Düne auskullert, sucht sie zuerst nach Kaninchen, das in dem ganzen Durcheinander aus der Tasche gefallen ist. Marie wartet noch nicht einmal, bis Lisa fertig ist. Sie sieht noch viele Dünenhänge bis zur Fahne. Und die anderen Bären sind fast schon da. „Los Lisa, weiterrutschen.“ Sie zieht die Schaufel hinter sich her, als sie die nächste Anhöhe erklimmt. Lisa bleibt zurück. Marie soll doch machen, was sie will. Sie wird schon noch sehen, was sie davon hat. Wenn man den spitzen Freudenschreien glauben will, viel Spaß. Lisa ist das egal, sie klopft ihre Kleidung ab und schüttelt den Sand aus den Ohren. Jetzt ist das kleine Schlappohr dran. Als Lisa endlich bei den anderen Bären an der Fahne eintrudelt, puhlt sie Kaninchen immer noch Sand aus dem Fell. Länger braucht nur noch Marie, die von Anna abgeholt wird, sonst hätte sie den ganzen Tag glücklich weiterrutschen können.

„Und was machen wir jetzt?“ Die kleinen Bären wollen beschäftigt werden.

Howard und Lausebär haben nur auf diese Frage gewartet.

„Wir bauen eine Strandhütte.“

„Was soll denn das sein?“ Lisa stopft Kaninchen wieder in die Tasche.

„Eine Butze aus Holz und Tüchern,“ erklärt Lausebär. „Wie ein Baumhaus, nur am Strand halt.“

„Dann fangen wir sofort an,“ Linus zeigt auf ihren Fixpunkt. Da ist das erste Baumaterial. Er läuft zur Palette und beginnt an den vernagelten Brettern herum zu reißen. Marie klappert mit ihrem Leuchtturm hinterher und steigt an der Palette hoch, um zur Fahne zu kommen. Lausebär und Anna pflücken beide aus dem Holzgestänge. „Das dürfen wir nicht einfach kaputt machen. Vielleicht kommen die Leute, die das gebaut haben, wieder.“

Linus ist sauer: „Wenn denen das noch wichtig wäre, wären die jetzt auch hier.“

Anna bleibt hart: „Das ist aber immer noch Diebstahl.“

„Piraten dürfen das!“ mault Linus.

„Nicht, wenn es große Schwestern verbieten!“

„Aber wenn wir die Fahne nehmen, merken die Leute es vielleicht gar nicht, weil sie es nicht wiederfinden.“ Linus will wenigstens das flatternde Tuch.

„Dann fehlt uns der Fixpunkt auch. Die Fahne bleibt.“ Anna blickt dem kleinen Bären fest in die Augen. „Und außerdem hast du schon deine eigene Piratenflagge.“

„Deswegen darf ich doch auch klauen,“ muffelt der verhinderte Räuber. „Morgen ist die sicher weg.“

Dennoch müssen alle wieder einpacken und zwei Dünengrasflecken weiter ziehen. Linus trottet brummelnd hinterher.

Sie bleiben in Sichtweite, aber der Fixpunkt ist tabu. Die großen Bären richten wieder schnell den mitgebrachten Windschutz auf. Auch diesmal sieht das Kaufteil kümmerlich aus. Der Sand ist so weich, dass die Stangen kaum Halt finden und nach kurzer Zeit hängen die Tücher und Spannseile schlapp durch. Sie brauchen einen Schutz gegen Wind und Sonne hier draußen, aber eben eine feste Strandhütte. Das ist doch klar.

„Und womit bauen wir jetzt?“ Wenn sie die Palette und Fahnenmast nicht nehmen dürfen, sieht Marie hier nur Sand.

„Die Tücher liegen schon im Bollerwagen. Das Werkzeug zum Bauen haben wir auf die Insel mitgebracht,“ erklärt Lausebär mit strahlenden Augen.

„Und das Holz liegt hier! Überall!“ Howard zeigt mit großer Geste auf den Strand. „Das ist das Strandgut und wird vom Meer angespült. Wir müssen es nur finden und zusammentragen.“ Er zeigt auf die senkrechten Hölzer, die beide Jungen schon gestern hingestellt haben. Er ist froh, dass Lausebär und er schon mal was vorbereitet haben. Alle sind begeistert und wollen mitmachen. Eine Holzsuche klingt nach echten Abenteuern und ein Haus am Strand ist eine aufregende Idee.

Seit Howard das Buch „Villa Paradiso“ gefunden und es Lausebär gezeigt hat, wollen beide unbedingt ihre eigene Strandhütte aus Treibholz bauen. Das Buch zeigt viele Beispiele für solche Bauten und dazu noch Fotos von tollen Spielzeugen aus Strandgut. Unter den meisten Bildern steht „Amrum“. So ist beiden schnell klar – ein Nordseeurlaub kann nur auf Amrum stattfinden. Zum Glück ist es nicht schwierig gewesen, Anna davon zu überzeugen. Auch wenn sie ihr noch keine Einzelheiten verraten wollten. Und nun sind sie hier. Die eigene Hütte ist nur eine Frage der Zeit, denn sie haben alles immer wieder in Gedanken geplant und sind vorbereitet.

Doch zunächst brauchen sie Holz. Sie werden sich aufteilen und in verschiedene Richtungen gehen, damit sie mehr Strand sichten können. Marie und Linus begleiten Howard. Anna und Lisa bilden das zweite Team und Lausebär will sein Glück allein versuchen. Zuvor sammelt er erst mal die senkrechten Zufallsfunde vom Vortag ein.

„Kein Holz zu sehen.“

Marie steht auf einer kleinen Sanddüne. Anna und Lisa sind schon kleine Punkte auf dem Strand.

„Hier gibt es nur Sand und Gras.“

Marie hat sich das mit der Holzsuche leichter vorgestellt.

„Hier ist es! Ich hab es gefunden.“ Linus ruft aufgeregt aus dem nächsten Dünental. Über seinem Kopf schwenkt er am ausgestreckten Arm einen kleinen Stock, den er gerade aus dem Sand gezogen hat. „Haha! Hier steht der große Holzinspektor.“

Howard schüttelt nur den Kopf: „Linus, der Stock ist doch viel zu klein.“

„Aber hier ist sicher noch mehr!“ Der große Holzinspektor zeigt auf den Fundort im Sand. „Wenn wir weitergraben, finden wir die ganze Holzmine.“

Er fängt an, mit den Pfoten im Sand zu buddeln. Schon bald muss er einsehen, dass Howard recht hat. Nach dem kleinen Ast kommt kein weiteres Holz. Enttäuscht läuft er Marie und Howard hinterher, die schon weitersuchen.

Marie achtet genau darauf, mit Howard Schritt zu halten. Immer wenn er stehen bleibt, um mit zusammengekniffenen Augen die Umgebung abzusuchen, stellt die Kleinste sich neben ihn. Und versucht die Augen auch ganz schmal zu machen. Dann sieht sie erst mal gar nichts.

„Hast du schon meinen neuen Leuchtturm gesehen?“ Marie ist so ungeheuer stolz auf ihren kleinen Holzanhänger. Er klappert bei jedem Schritt, seit Anna ihn heute morgen mit einer Klammer an ihrem Hemd befestigt hat. Immer wenn sie läuft, schwingt der hölzerne Leuchtturm aufgeregt wedelnd hinter Marie her. Und wenn sie steht, nestelt sie versonnen am Band. Jeden der anderen Bären hat sie schon mehrfach gefragt, ob sie den Leuchtturm auch bemerkt haben. Sie haben ihn natürlich alle gesehen. Auch Howard sieht ihn.

„Mein Leuchtturm ist toll.“

„Ja, Marie.“ Howard ist offensichtlich abgelenkt. Er wartet bis Linus wieder aufgeschlossen hat.

„Wieso liegt hier überhaupt Holz?“ Linus hat die beiden erreicht und will wissen, wie sie eine Hütte bauen wollen, wenn keine Holzminen unterm Strand liegen.

Howard zeigt auf die gleißende Nordsee: „Das wird hier vom Meer angeschwemmt. Irgendwo fällt es ins Wasser oder eine wilde Welle nimmt es mit. Die Strömung trägt es durch die See und irgendwann liegt die Insel im Weg. Dann wirft das Meer das Holz hier auf den Strand. Deshalb liegt es auch nie auf einem Haufen.“

„Und wieso liegt dann das Holz mitten im Strand und nicht nur vorn beim Wasser.“

„Das hängt mit Ebbe und Flut zusammen,“ antwortet Howard.

„Das ist das, was das Wasser immer wegmacht?“ mischt sich die Kleinste ein.

„Ja, Marie. Die Flut bringt das Holz und die Ebbe zieht es wieder aufs Meer hinaus. Deswegen bleiben nur die Bretter, die die See hoch genug auf den Strand wirft. Also immer dann, wenn die Flut ein wenig höher steigt als üblich.“

„Wenn die hier länger herumliegen, hat die sicher schon jemand mitgenommen.“ Linus lässt die Schultern hängen.

Howard beeilt sich, ihm wieder Hoffnung zu geben: „Das Strandgut sieht man nur nicht auf den ersten Blick. Wenn es länger herumliegt, treibt der Wind Sand darüber. Dann ist es kaum zu erkennen.“

„Dann werden wir ja nie genug Holz für eine Hütte finden!“ Linus macht sich ernste Sorgen. Vielleicht ist die ganze Sache nur verlorene Zeit...

„Keine Angst, wir müssen nur richtig gucken. Schaut euch die Spülsäume an. Achtet auf dunkle und gerade Kanten im Sand. Manchmal sind es nur Tangreste, aber oft auch Holzstücke oder anderes Strandgut.“

Endlich haben sie Glück. Howard zieht eine prächtige Latte aus dem Sand. Marie findet auch ein Brett, das sie stolz zu Howard trägt. Und der große Holzinspektor kräht über den Strand:

„Meins ist das Größte! Ich hab´s ja gleich gewusst, hier ist das beste Stück!“ Linus hüpft aufgeregt auf und ab. „Wir müssen meinen Namen draufschreiben. Damit jeder weiß, wer es gefunden hat.“

Natürlich ist es viel schwer für den kleinen Bären. Aber Howard hat eine Idee. Linus soll das Stöckchen holen, das eben viel zu klein war. Der Ältere scheint auch etwas zu suchen.

Als Linus außer Atem zurück zu seinem Fund kommt, wartet Howard auf das Stöckchen. Er hat inzwischen ein Stück geflochtenes Band aus Algenresten herausgepult. Es ist Knallorange, aus Plastik und richtig stabil. Ursprünglich war es Teil eines Fischernetzes, jetzt ist es nur noch Strandgut.

„Das wird ein Zugtampen und deinen Stock, Linus, binden wir als Handgriff dran. Mit einem Seemannsknoten – die halten und gehen nicht wieder auf.“

Howard zeigt den kleinen Bären, wie man solche Knoten macht. Und immer, wenn er mit ein paar geschickten Handbewegungen die Seilenden neu verflochten hat, sieht das Geschlinge anders aus und bekommt einen anderen Namen. Er zeigt ihnen einen Kreuzknoten, einen Webeleinstek, ein Slipstek und schließlich sogar einen Palstek. Jedes Mal lässt er die Kleinen ordentlich dran ziehen, ob der Knoten auch wirklich hält. Genauso schnell knüpft er die gerade entstandene Arbeit wieder auf, um die nächste Verbindung zu zeigen. Dazu summt er beschwingt eine Melodie, die man unter allem Gebrummel für einen Seemannsshanty halten könnte. Marie und Linus folgen der Vorführung mit offenen Mündern und zerren so fest sie können am Band. Howard hält inne. Die Begeisterung hat ihn davongetragen. So viele komplizierte Knoten können sich die Kleinen doch nie merken. Deshalb sucht er was Einfaches: Zwei Schlingen übereinander geschoben - das sollte gehen.

„So, das sind zwei halbe Schläge. Jetzt seit ihr dran.“ Marie und Linus wollen beide anfangen. Sie drängeln sich um die Schnur. „Du kriegst gleich zwei ganze Schläge, wenn du nicht abhaust.“ Der kleine Pirat funkelt seine Schwester an. Die lässt sich nicht einschüchtern.

„Ich darf aber zuerst, weil ich die Kleinste bin.“

„Coole Knoten sind aber was für Seebären.“ Linus betont die Seebären besonders, damit Marie kapiert, dass keine Seebärinnen und erst recht nicht winzige gemeint sein können.

Trotzdem darf Marie anfangen. Grummelnd stapft Linus davon. Dann wird er sich seine eigene Strippe suchen.

Marie stürzt sich mit Feuereifer in die Arbeit. Mit dem orangenen Band umschlingt sie die Bretter. Eine Schlinge, durchfädeln und wie jetzt? Ach ja, noch eine zweite Schlinge. Mit der Zungenspitze begleitet sie jede Windung des Bandes. Nur noch ziehen und - ups – die Bretter fallen wieder auseinander. Die Schnur, die sie in ihrer Pfote hält, tänzelt frei im Wind.

Nächster Versuch, Holz umwickeln, Schlinge machen, Ende durchziehen und die zweite Schlinge – wie gemein - löst schon den ersten Knoten. Das ist es auch nicht. Marie ist ratlos, es hat doch so einfach ausgesehen.

„Howard, was nun?“

Gemeinsam unternehmen sie noch einen Versuch. Nur schlägt der große Bär nach der ersten Schlinge eine neue Variante vor. Mit zwei Schlaufen zum Festziehen. Eine Schleife, wie morgens Anna ihre Schuhe festbindet. Das ist viel besser. Howard knüpft die Enden zusammen und Marie hat die höchstwichtige Aufgabe, die erste Schlinge festzuhalten. Schnell noch die kleine Pfote rausziehen und fertig. Der Knoten hält. Damit ist der schwerste Teil erledigt. Das zusammengebundene Holz muss Howard jetzt nur noch zum Sammelplatz ziehen.

Linus strahlt, als er wiederkommt. Er hat seinen eigenen Tampen aus dem Sand gezogen und von den mit Seetang verfilzten Muscheln befreit. Zwei halbe Schläge sind seine Sache nicht. So hat er neue Knoten erfunden, die die Seefahrt für immer verändern werden. Hunderte bis jetzt unbekannte Knoten, die millionenfach besser halten als alle bekannten Befestigungen zusammen. Zwei hat er schon mal mitgebracht: den Konteradmiral-Linus-Spezial-Super-Steg und den wahnsinnigen Weltraum-Wunder-Knoten mit sechsfacher Sonder-Sicherung. Stolz hält er in jeder Pfote zwei monströse Wuhlings, die fast so lang sind wie Linus. Marie wird ganz schwindelig, als sie versucht, dem Verlauf der einzelnen Fasern zu folgen. Solche Knoten hat noch keiner gesehen, was? Die muss Linus auch Lausebär zeigen. Und wieso sollte er sie irgendwann wieder aufmachen.

Mit reicher Beute machen sie sich auf den Rückweg.

Marie stolpert fast wieder über den Saum ihres Hemdchens. Es ist ihr viel zu groß, sie soll da erst reinwachsen. Solange hängt das Stoffende ständig frech unter ihren Füßen und bringt sie immer in Schwierigkeiten.

Dann will Marie ganz schnell auch eine große Schwester sein. Wie ihre Schwestern. Und nicht deren Sachen auftragen. Die sind so riesig. Weil sie da ja noch reinwachsen soll. Wenn sie das geschafft hat, kommen neue Kleider – wieder so riesig. Dann soll sie da reinwachsen.

Aber, wenn sie jetzt die große Schwester wäre, am besten die größte Schwester. Dann müssten ihre Schwestern Maries Sachen auftragen. Die könnten auch mal in was reinwachsen und über die Enden von den Hemden stolpern...

„Marie, wo bleibst du?“

Anna und Lisa erkunden den Strand in einer anderen Richtung. Sie sind wieder zur Pfahlreihe gegangen, die bis zur Wasserkante reicht. Die aufgestellten Pfosten teilen den Strand in die freie Zone und das Vogelschutzgebiet. Kleine gelbe Tafeln erheben die Rundhölzer zu öffentlichen Wächtern, die den Zutritt ins Rast- und Brutgebiet der Wasservögel verwehren. Damit sind sie leider kein Strandholz, das die Bären mitnehmen können. Viele Fußspuren im Sand führen geradewegs in die verbotene Zone. Scheinbar darf man also doch weitergehen. Man muss nur ganz vorsichtig sein. Wenn man so einen Vogel denn überhaupt sehen würde.

„Also Kaninchen, warum ist das ein Vogelschutzgebiet, wenn keine Vögel da sind? Aber Holz gibt es hier auch nicht. Oder siehst du was?“ Lisa hält Kaninchen am ausgestreckten Arm in die Luft. Damit Kaninchen noch weiter gucken kann.

Anna ist schon wieder voraus. „Lisa, komm endlich. Du kannst mit Kaninchen auch hier weiterquatschen.“

Abgesehen davon, dass sie ständig ein Auge auf die kleine Kaninchenträgerin haben muss, ist es wieder ein perfekter Tag. Sie könnte immer weiter laufen. Bis nach vorn, wo der Sand vom Wasser dunkel durchtränkt ist. Ständig treibt eine sanfte Brandung die Wellen den Strand hoch, bis sie kraftlos zurückrollen. Der Boden ist hier fester und entlang des Meeressaumes ist das Gehen leicht. Anna sieht einen langen, langen Weg vor sich. Nur Wind, Sand und Wellen. Wenn es nach ihr ginge, könnten sie auch erst morgen mit der Hütte anfangen. Aber das gäbe einen Aufstand.

Anna dreht den Kopf und der Wind zieht das Fell nach hinten. Der leicht scharfe Geruch des Meeres wird intensiver. Sie saugt ihn bedächtig ein.

„Lisa, du langweilige Triene, komm!“ Weil sie stillsteht, sacken ihre Füße langsam in den Sand. Schon rieselt der Sand von den Rändern ihrer Fußabdrücke zur Mitte. Gleich werden ihre Pfoten verschwunden sein. Wenn sie sich jetzt nicht bewegen würde, wie tief würde sie sinken?

„Kaninchen sieht auch nichts.“ Lisa zeigt auf das kleine Schlappohr, das sie mit in ihren Halsausschnitt gestopft hat. So kann es die ganze Zeit mitsuchen. „Aber wir müssen doch was finden. Sonst stehen wir nachher als einzige mit leeren Pfoten da. Das wäre doch blöd!“ Lisa atmet tief durch und blickt Anna bettelnd an.

Also werden sie nicht erst morgen anfangen. Anna seufzt und konzentriert sich wieder auf die Aufgabe. In der Ferne sehen sie Lausebär mit großen Brettern hantieren. Sie sind wohl wirklich die einzigen, die noch kein Erfolg vorweisen können.

„Gut Lisa, lass uns mit System suchen und nicht nur hin und her laufen. Wir bleiben da, wo Seetang liegt oder bei den Erhebungen mit Dünengras. Ich laufe links und du mit Kaninchen ein paar Schritte entfernt davon. So durchkämmen wir einen größeren Bereich und vier, äh sechs Augen sehen mehr.“ Lisa und Kaninchen sind ganz hingerissen von dem Plan. So wird es gemacht und sie kommen gut voran. Anna muss nur aufpassen, dass Lisa nicht zuviel mit Kaninchen diskutiert und dabei das Gehen vergisst.

Mit Annas Suchsystem finden sie einen Plastikdeckel von einem Mayonaisen-Eimer, zwei linke Gummihandschuhe in leuchtendem Orange und ein kleines Brett mit abgebrochenen Enden. Ein großer, krumm gehauener Nagel steckt mitten im Holz. Das Salzwasser hat ihn rosten lassen. Das dünne blaue Tau, das sie auch aus dem Sand gezogen haben, binden sie daran fest. Lisa strahlt: „Anna, das sind doch tolle Sachen und vielleicht findet Kaninchen ja auch noch einen rechten Handschuh.“ Es stört die kleine Bärin überhaupt nicht, dass kein Fundstück beim Bau der Strandhütte nützt. Wenn sie Anna nicht beim Ziehen des Brettchens hilft, hält sie den Eimerdeckel wie ein Lenkrad in den ausgestreckten Pfoten und brummt den Weg zurück.

„Lisa, pass auf die Vögel auf.“

„Welche Vögel? Das ist hier ein Gebiet, das vor Vögeln schützt.“ Lisa lenkt ein wenig nach rechts, damit die Richtung wieder stimmt.

Erst als sie die Pfahlreihe wieder passieren und in die freie Zone kommen, sehen sie schwarzweiße Vögel mit langen roten Schnäbeln. Sie laufen aufgeregt umher und schimpfen laut. Sie nähern sich den Bären, um dann mit großem Geschrei zur Seite auszuweichen. Immer wieder.

„Das sind Austernfischer, Lisa. Die müssen hier irgendwo ihr Gelege haben.“ Anna schaut sich um, sie will nicht aus Versehen auf die kleinen, gesprenkelten Eier treten, die hier irgendwo fast ungeschützt im Sand liegen.

„Hier ist doch unser Teil des Strandes. Wissen die denn nicht, wo die brüten müssen.“ Lisa zeigt auf die Dünen hinter den Holzpfosten. Aber Kaninchen muss aufpassen und die kleine Bärin brummt die nächsten Meter ganz vorsichtig. Bis sich diese Dummvögel wieder beruhigen. Mit lautem Hööön beschleunigt Lisa auf Höchstgeschwindigkeit und steuert den Windschutz an, wo die anderen Bären schon warten.

Die ersten Funde werden von allen bestaunt und die stolzen Finder gebührend bewundert. Dann ist es Zeit für eine Pause hinter dem Windschutz. Anna verteilt Honigkuchen und Früchtetee. Besonders achtet sie darauf, dass die Kleinen auch genug trinken. Die wollen aber wieder loslaufen und weitersuchen. Es gibt doch noch so viele Schätze hier.

Lausebär will immer noch allein suchen. Dafür findet er auch das Stück, das auf alle den größten Eindruck macht. Er wuchtet die abgebrochene Spitze einer Pricke über den Sand. Das wird ihr eigener Fahnenmast über der Hütte. Es gibt keinen anderen Platz für Fischli, den Windsack. Da lässt Lisa nicht mit sich reden. Die Piratenflagge darf höchstens an hohen Feiertagen auch mal wehen.

Alle Fundstücke werden auf einen Haufen gelegt, der an diesem Tag noch ordentlich wächst. Immer wieder zählen Howard und Lausebär die langen und stabilen Bretter oder Latten. Sie benötigen mindesten zehn oder besser zwölf Hölzer, die das Grundgerüst der Hütte bilden sollen. Am Ende sind es so viele, dass sie sich die schönsten Teile aussuchen können. Und für eine Wand finden Lisa und Anna sogar die fast vollständige Seite einer Apfelsinenkiste. Diesmal muss Lisa den ganzen Weg mitziehen, sonst hätten sie das sperrige Stück liegen lassen müssen. Auf die Beute des ersten Tages sind alle stolz.

Inzwischen nähert sich die Sonne dem Horizont. Die Glieder sind schwer. Die kleinen Bären haben sich müde in den langen Schatten des Bollerwagens verkrochen. Auf die großen Bären wartet noch Arbeit. Sie graben in der Nähe des Holzhaufens ein Loch und packen dort die übriggebliebenen Vorräte und das Werkzeug ein. Das wollen sie nicht jeden Tag auf den Strand hinaus schleppen. Danach schließen sie das Loch und streuen Pudersand locker darüber. Damit kein Fremder ahnt, wo er buddeln muss. Zum Glück denkt Lausebär noch rechtzeitig daran, eine Markierung zu suchen. Ein Gruppe von Dünensandbüscheln in der Nähe des Holzhaufens ist ungefähr vierzehn Schritte vom Versteck entfernt.

Der kümmerliche Rest des Windschutzes krümmt sich jetzt nur noch knapp über den Boden. Die Spannseile halten schon lange nichts mehr und ringeln sich schlaff um die Stangen. Es ist der ständige Wind, der die Stangen aus dem feinkörnigen Sand drückt, bis sie keinen Halt finden. Als kurz darauf die schiefe Stoffwand endgültig zusammenfällt, bekommen es die kleinen Bären schon gar nicht mehr mit. Sie schlafen erschöpft im Bollerwagen unter einer Decke. Sie wachen noch nicht einmal auf, als sie von den großen Bären in dem Karren mühsam durch die Dünen heim gezogen werden.

Erst als die Jungen den Bollerwagen über die Holperstrecke von Köhn´s Übergang ziehen, blinzelt Marie verschlafen und murmelt im Halbschlaf: „Wartet das Holz bis morgen?“

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